Lotte Brainin (1920 – 2020)

Am 12. November 1920 kam die österreichische Widerstandskämpferin Lotte Brainin in Wien zur Welt. Sie gehörte um die Jahrtausendwende zu jenen Frauen in der Österreichischen Lagergemeinschaft, die sich aktiv darum bemühten, „junge“ Frauen in die Arbeit der ÖLGR zu integrieren und damit eine weitere Zukunft des Vereins zu ermöglichen. Für die Übergabe der Agenden verfasste Lotte 2005 zusammen mit ihrem Mann Hugo eine Präambel für die Statuten, die die unumstößlichen Aufgaben der Mitglieder für den Zeitpunkt festlegt, wenn die Überlebenden des KZ Ravensbrück nicht mehr am Leben sind und ihre Zeitzeuginnenschaft nicht mehr zur Verfügung steht. Am 16. November 2020 ist die von uns allen bewunderte Lotte hochbetagt verstorben.

Lotte Brainin im Interview mit Helga Amesberger 1999; © Bernadette Dewald

Liebe Lotte,
du hast über viele Jahrzehnte so viel Kraft, Wissen und Streitbarkeit für die Arbeit der Lagergemeinschaft Ravensbrück (& FreundInnen) zur Verfügung gestellt. Uns „Jungen“ bist du stets mit viel persönlichem Interesse entgegengetreten. Du warst und bist uns Vorbild und dafür wollen wir dir von Herzen danken.
Wir werden dich sehr vermissen.

Aus Anlass des Todes von Lotte veröffentlichen wir hier einen — etwas überarbeiteten — Artikel, der auch im kommenden Mitteilungsblatt über das Jahr 2020 erscheinen wird, ursprünglich verfasst, um diese außergewöhnliche Persönlichkeit zu ihrem 100. Geburtstag zu ehren.
Da der Ehrentag Lottes und ihr Ableben am 16. 12. 2020 sehr knapp beieinander lagen, sind in den Monaten November/ Dezember 2020 zahlreiche Würdigungen erschienen. Viele Links dazu sind in diesem Artikel ebenfalls aufgelistet.
pdf 100 Jahre Mensch. 100 Jahre Lotte Brainin. (PDF-Download)

Ein von Lottes Familie gemeinsam mit dem Bezirksmuseum Alsergrund ursprünglich geplanter Festakt zum 100. Geburtstag musste aufgrund der momentanen Situation (Covid-19-Bestimmungen) leider online stattfinden, deswegen lud das Bezirksmuseum Alsergrund am 12.11.2020 ein, via Internet dabei zu sein.
Der Festakt ist dauerhaft online nachzusehen.

Die Künstlerin Marika Schmiedt hat in Zusammenarbeit mit den beiden Töchtern Lottes eine digitale Ausstellung erarbeitet,  die eine dichte Fülle an Dokumenten, Fotografien und Texten über Lotte Brainins Leben und ihre Widerstandstätigkeit in der Zeit des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus zur Verfügung stellt.

Die Filmkünstlerin und Theaterregisseurin Tina Leisch gestaltete in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück und FreundInnen und dem KZ-Verband auf Radio Dispositiv das Feature Ich habe nur getan, was ich für richtig hielt. In Audiodokumenten, u.a. in Interviews, geführt von Helga Amesberger und in für die Sendung eingesprochenen Texten (aus Dokumenten auf brainin.at) lässt sie Lotte, ihren Bruder Elie und Herta Ligeti-Fuchs über ihre Erinnerungen erzählen.
https://cba.fro.at/481727

2009 erschien im Rahmen der Video-Reihe VISIBLE ein filmisches Portrait von Lotte Brainin, erarbeitet anhand von Interviews aus dem Jahr 1999 (geführt von Helga Amesberger) und Gesprächen von 2008 mit Lotte Brainin und ihrem Enkelsohn Jakob Puchinger — hier noch einmal Lotte, wie sie so viele von uns in Erinnerung haben.

LOTTE BRAININ. LEBEN MIT EIGENWILLEN UND MUT von Bernadette Dewald, AT 2009, 48 min.


Zum 95. Geburtstag von Lotte Brainin haben wir nachstehendes Portrait auf dieser Website und in unserem Mitteilungsblatt veröffentlicht:

Lotte tanzt auf einer Party in der Wohnung der Brainins (1969) S8-Filmstill © Hugo Brainin

Zum Geburtstag von Lotte

1998 habe ich  Lotte kennen gelernt, „frisch gefangen“ als von den Ravensbrückerinnen sogenannte „Junge“. Zu diesem  Zeitpunkt herrschte Aufbruchsstimmung in der Lagergemeinschaft: Der Start des großen Interviewprojekts mit österreichischen Überlebenden des KZ Ravensbrück von Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr wurde gerade in Angriff genommen und für eben diesen Zweck war ich als Kamerafrau (als eine von insgesamt vieren) eingeladen worden, teilzunehmen.
Die Frau, die mir in der damals noch relativ großen Gruppe der Überlebenden als Erste besonders auffiel, war Lotte: sehr klein und trotzdem ganz Grande Dame, ausgesprochen attraktiv, zurückhaltend, aber ebenso kritisch und sehr forsch, wenn es um ein Thema ging, das ihr persönlich wichtig war – so ist meine Erinnerung an ihr Auftreten.
Als mir schließlich die Aufgabe zufiel, die Interviews mit ihr auf Video aufzuzeichnen, fühlte ich mich gleichermaßen glücklich-neugierig wie auch aufgeregt. Die Lebensgeschichte, die ich damals das erste Mal zu hören bekam, hat mich zutiefst berührt und erschüttert; und genauso gefangen genommen hat mich die Art und Weise, in der sich Lotte mitteilte, ihre Mimik, ihre Gesten, ihre Haltung, all das hat mich in ihrer Schönheit und Anmut ungemein fasziniert. Bis heute schätze ich es als besonderes Erlebnis, dass ich diese ungewöhnliche Frau als Erzählende über viele Stunden beobachten und „einfangen“ durfte.
Lotte wurde 1920 als Tochter von ukrainischen Flüchtlingen, Jetty und Maurici Sontag in Wien geboren. Schon in früher Jugend bewegte sie sich, wie auch ihre älteren Geschwister, in linkspolitischen Kreisen. Im Zuge der Februarkämpfe 1934 wurde sie erstmals verhaftet und daraufhin jedes Jahr im Februar aufs Neue in sogenannte Schutzhaft genommen. Mit dem „Anschluss“ 1938 war sie daher doppelt gefährdet: Sie war nun nach den Nürnberger Rassegesetzen als „Jüdin“ klassifiziert und als Kommunistin amtsbekannt. Ihr gelang – ebenso wie ihren Brüdern und ihrer Mutter – die Flucht ins belgische Exil, der Einmarsch der deutschen Truppen aber brachte sie erneut in Gefahr. Ab 1941 in Brüssel im Widerstand tätig, wurde sie nach einem Verrat 1943 verhaftet und durchlebte schwerste Folter durch SS und Gestapo, bis sie schließlich nach Auschwitz deportiert wurde. Ihre Mutter, ebenfalls deportiert, wurde in Auschwitz direkt von der Rampe weg in die Gaskammer gebracht und ermordet.
Auch in Auschwitz war Lotte in einer Widerstandsgruppe tätig, die mithalf, ein Krematorium zu sprengen. Ihre damaligen Mitstreiterinnen wurden ausgeforscht und erhängt. Mit dem Heranrücken der Roten Armee wurde Lotte mit vielen anderen auf einem der sogenannten Todesmärsche ins KZ Ravensbrück verschleppt. Schließlich gelang ihr auf einem weiteren Todessmarsch kurz vor der Befreiung gemeinsam mit ihrer Freundin Juci Rusch die Flucht. Auf Umwegen kehrte sie schließlich wieder nach Wien zurück. Und diese Rückkehr war mehr als schwierig – für viele in ihrer Geburtsstadt war sie nicht willkommen und noch weniger wollte jemand über die Geschichte von ehemaligen KZ-Häftlingen wissen.
Trotzdem: Tief eingeprägt in meinem Gedächtnis haben sich die Veränderungen in Gesicht und Körperhaltung Lottes, als sie im Interview vom Leben danach zu sprechen begann: größer und weiter plötzlich die Bewegungen, heller und lebhafter, als sie von der politischen Veranstaltung erzählte, bei der sie „ihren“ Hugo kennengelernt hatte. Obwohl die Erinnerungen an die entsetzlichen Erlebnisse während des Krieges auch später immer wieder ihr Leben überschatteten, fand Lotte glücklicherweise in ihrem Familienleben starken Halt. Dieser Anker ist vor allem auch jetzt, da sie leider schon einige Jahre sehr krank ist, umso intensiver geworden ist. Liebevoll kümmert sich Hugo gemeinsam mit den beiden Töchtern um Lottes Wohlergehen.
Das zu wissen ist für uns in der Lagergemeinschaft, die wir sehr traurig darüber sind, dass diese ehemals Unermüdliche nicht mehr zu unseren Treffen kommen kann, ein großer Trost. Und wir möchten Hugo und auch Elisabeth und Marianne auf diesem Weg nochmals dafür danken.
Für mich persönlich war es eine große Ehre, als Lotte mir 2008 im Rahmen der Reihe „Visible“ erlaubte, ihre Geschichte in einem Filmportrait zu erzählen, auch wenn ich stets das Gefühl hatte, diesem Unglaublichen, diesem Schrecken und Schmerz und ebenso dem Mut, den Lotte diesem Terror gegenüber bewiesen hat, niemals gerecht werden zu können.
Gerade für diesen Mut möchte ich dir, liebe Lotte, danken, dafür, dass du uns damit ein Vorbild bist und immer bleiben wirst.
Alles Liebe und Gute zu deinem 95er
Bernadette Dewald

Lotte Brainin im Mai 2015; Videostill © Bernadette Dewald


Weitere Informationen zum Leben von Lotte Brainin finden sich im Mitteilungsblatt 2010 (S. 17-21) und im Mitteilungsblatt 2012 (S.17-18) sowie in dem Film „Lotte Brainin. Leben mit Eigenwillen und Mut“ aus der Reihe „Visible“.
Lotte Brainin: Rede zur Befreiung von Auschwitz““ verlesen von Katharina Stemberger am 27. Jänner 2017 am Wiener Heldenplatz